Wieder eine schlaflose Nacht. Die Hitze in dem stickigen Raum verschmilzt mit meiner Körperglut. Ich habe von Verbrechen an jungen Mädchen gehört, deren Qualen ich mir nicht ausmalen kann. Was immer die Gründe dafür sind, es darf, empöre ich mich, keine Rechtfertigung geben! Schuldgefühle plagen mich, wenngleich ich nicht verantwortlich bin. Mich quält ein schlechtes Gewissen, hilflos gegenüber dem Unrecht zu sein, das anderen widerfährt.Gedankenschwer wälze ich mich im Bett. So sehr ich mich winde und wende, ich kann in dieser unendlich langen und schwülen Nacht keinen Schlaf mehr finden. So zwinge ich mich aus meinem Lager, erhebe mich von meinem Bett und ziehe ziellose Kreise im dunklen Raum meiner Unterkunft. In meiner ruhelosen, erschöpfenden Schlaflosigkeit mache ich die Nacht zum Tag und zünde eine Öllampe an. Die stelle ich auf den Boden und hocke mich davor, in die flackernde Leere der kleinen Flamme zu starren. Alle Welt soll erfahren, was hier mit jungen Mädchen geschieht! Ich versinke in Wut und Trauer, bis mir alle Gedanken verloren gegangen sind...
„Signore! Capo!“, reißt mich eine ferne Stimme aus der Dämmerung: „Svegliarsi!“
Ich weiß nicht, wo ich mich befinde, muss wohl eingedöst sein. Ich schüttele mir bizarre Traumbilder aus dem Kopf und werde mir erst allmählich bewusst, dass ich zusammengesunken auf dem Boden hocke. Ungelenk erhebe ich mich und nehme den Hall der Rufe wieder wahr: „Signore!! Capo! Svegliarsi!“
„Das ist...“, ordne ich meine Gedanken, „...doch italienisch: Herr! Chef! Aufwachen!“
Ich bleibe orientierungslos und lege, um mich wiederzufinden, eine Gedankenpause ein. Dann kommt es mir in den Sinn, dass ich mich in Somalia befinde und dass dieses Land bis vor wenigen Jahren noch italienisches Treuhandgebiet war. Die Menschen hier sprechen neben ihrer eigenen Sprache auch Englisch und Laute, die sie von ihren einstigen Kolonialherren kannten. Nun bin ich wach und erinnere mich an die Verabredung, die ich gestern abends traf.
„Ich komme gleich!“, rufe ich zurück und ziehe mich hastig an. Mit beiden Händen schaufele ich eine Pfütze Wasser aus der Schüssel auf dem Tisch und werfe mir die Lache über das albtraumverquollene Gesicht.
Unten, vor der Tür meines bescheidenen Hotels, steht abfahrbereit ein offener Jeep. Darin erhebt sich hinter dem Beifahrersitz die Schweizerin, die ich am Vorabend traf. Sie ruft mir zu: „Steig ein!“
Ich überquere die staubige Straße und hechte mit einem Sprung über die geschlossene Tür auf den Rücksitz hinter dem somalischen Fahrer. Schon brausen wir los, stadtauswärts in Richtung Norden. Die sandige Landstraße führt uns an Feldern vorbei, auf denen kleine Mädchen auf dem Boden im Schatten von Akazienbäumen hocken und Ziegenherden hüten. Einige der Tiere halten sich aufrecht, die Vorderhufe gegen die Baumstämme gestemmt, und schnappen an den Ästen nach einem Bissen von Früchten und Blättern. Andere äsen im spärlichen Gras. In deren Nähe sehe ich ein Lager mit Hütten, aus geflochtenen Matten errichtet. Wir kommen an Kamelherden vorbei. Hintereinander aufgereiht, eines der Tiere nach dem anderen. Knaben führen die Dromedare wie eine geordnete Schulklasse beim Überqueren einer Straße an, deren Fußgängerampel auf grün geschaltet ist. Unser Jeep führt uns durch die Savanne weiter an einem ausgetrockneten Flussbett entlang. Ich erblicke einen Mann, dessen Herde macht Rast, der steht wie ein Storch nur auf einem Bein. Das andere Bein ist angewinkelt, der Fuß gegen den Oberschenkel des Standbeines gedrückt. Die Arme baumeln seitlings des Kopfes über einem Stock, den der Hirte quer über der Schulter trägt.
„Die Nomaden“, klärt mich der Somalier vom Fahrersitz vor mir auf, „nehmen diese
Haltung an, wenn sie sich ausruhen wollen.“
(Leicht geänderter Textauszug aus: Nandinda, „Draußen ist Freiheit… Eine deutsche Nachkriegsbiographie“, Deutsche Literaturgesellschaft, Berlin 2009)
Veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung des Autors Dr. Björn Pätzoldt
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